NICHT-WISSEN

Nicht-Wissen zählt in der Schulung von Achtsamkeit zu den wesentlichen Qualitäten. Dabei geht es aber nicht um ein Nichtwissen, das sich als falsches Verständnis oder Mangel an Verstehen äußert, im Gegenteil, diese Form des Nichtwissens wurde in der buddhistischen Lehre, die auch dem modernen Begriff von Achtsamkeit als zugrunde liegend betrachtet werden kann, als einer der Ursprünge von Leiden identifiziert. Und hier setzt unser Begriff von Nicht-Wissen an – ein Bewusstsein, das sich einerseits seiner eigenen Meinungen und Ansichten bewusst ist und nicht damit identifiziert, und andererseits der Tatsache bewusst ist, dass wir wirklich nicht wissen. Dieses wiederum ist ein doppeltes Nicht-Wissen, zum ersten eines, das sich bewusst ist, „you never know what happens“, wie es der Zen-Koch Edward Espen Brown so häufig anbrachte, und zum anderen, dass da letztlich auch niemand da ist, der weiß…Setzt man diese Grundgedanken über Nicht-Wissen in Bezug zum modernen Begriff von Achtsamkeit und wendet dies auf die aktuelle Situation der Covid-19 Pandemie an, dann entstehen daraus wertvolle Impulse. Dem Alltagsgeist wohnt die Tendenz inne, sich im Erinnern der Vergangenheit oder dem Antizipieren der Zukunft zu verlieren – Achtsamkeit bedeutet ja auch, sich genau dessen gewahr zu werden und die Aufmerksamkeit wieder in der gegenwärtigen Erfahrung zur Ruhe kommen zu lassen. Diese sorgenvollen Gedanken an eine mögliche Zukunft,  an das, was noch kommen mag, uns oder unseren Lieben vielleicht noch bevorstehen mag – erzeugen Stress und Belastung. So können Situationen, die es noch gar nicht gibt, bereits eine schädliche Wirkung entfalten. Werden wir uns dieser Tendenz des Geistes bewusst, und verbinden dies mit der Einsicht darin, dass wir es faktisch ja nicht wissen, was kommt, dann fällt es leichter, wieder und wieder in die Gegenwärtigkeit zurück zu kehren und den Geist zumindest etwas zur Ruhe kommen zu lassen. Damit mag das tiefe Verständnis einhergehen, dass wir wirklich im Nicht-Wissen zuhause sind, eigentlich sogar geborgen. Denn dieses Nicht-Wissen erlaubt eine Offenheit für das, was sich da gerade entspinnen mag, und ermöglicht uns so, besser und unvoreingenommen zu handeln. Weder naiv noch hirnlos, sondern wach, wahrnehmend und die Situation als das erkennen, was sie gerade eben ist, in ihren Notwendigkeiten und Anforderungen. Nicht-Wissen und „Tag um Tag ein guter Tag“ sind nichts anderes als verschiedene Formen die selbe Einsicht zu bezeichnen. In einer Zeit, die ihre Herausforderungen für Viele so deutlich macht, ist es ja keine Kunst sich der Notwendigkeit einer klugen Geistesschulung bewusst zu sein. Umso mehr aber ist es jetzt aber nicht leicht, den unruhigen Geist immer wieder aufs Neue zu erkennen und die Ruhe in der Unruhe zu entdecken. Achtsamkeit meint ja nicht, die schwierigen Bewegungen der Seele loszuwerden in dem wir ihnen entgegentreten, sondern im Gegenteil, sie zu erkennen und zu akzeptieren – und sich nicht damit zu identifizieren. Wie es auch in dem im englischen Sprachbereich im Kontext der Achtsamkeit häufig genutzten Akronym „RAIN“ ausgedrückt wird: Recognize (erkennen), allow (zulassen), investigate (erforschen), non-identify (nicht damit identifizieren).Mit diesem Schema läßt sich tatsächlich gut ein mentaler Prozess beschreiben, der erlernt werden kann und den achtsamen Umgang mit der Erfahrung des Augenblicks (sei sie angenehm, neutral oder unangenehm) beschreibt. Angewandt auf diesen jetzigen Augenblick, was ist dann gerade jetzt?

Dr. Florian Seidl