Leben ist, wo die Aufmerksamkeit ist.
Aus einer Perspektive von Achtsamkeit heraus können wir diese Einsicht oft selbst gut nachvollziehen. Beginnt man mit dem Üben von Achtsamkeit, so wird häufig erst bewusst, wie sehr Aufmerksamkeit wandert, wie unstet sie ist, und welche Objekte sie sich vornehmlich sucht. Und alle diese eben genannten Aspekte sind von großer Bedeutung, wenn wir in Betracht ziehen, was die ursprüngliche und auch heute noch aktuelle Bedeutung von Achtsamkeit (Pali: sati) ist – das Leiden verringern. Gerade die Eigenschaft des Bewusstseins, negative Inhalte zu betonen – in der Wissenschaft als negativity bias bezeichnet – kann zu einer steten Quelle des Unglücks werden. Was wir regelmäßig praktizieren, darin werden wir besser. Widmen wir uns regelmäßig und ausgiebig der Wahrnehmung und Identifizierung mit Negativem, so gewinnt dies immer mehr Anteil im eigenen Leben – das Leben wird „negativer“. Evolutionspsychologisch ist diese Tendenz, negativen Gedanken und Erfahrungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als neutralen oder positiven, durchaus nachvollziehbar und offensichtlich ein Überlebensvorteil. Dieser Vorteil interessiert sich ja nicht für das Glück und Wohl des Einzelnen. Aus der Sicht des individuellen Menschen jedoch gewinnt diese Eigenschaft eine ganz andere Bedeutung. Und so gilt es vom Standpunkt der Achtsamkeit aus sich bewusst zu werden, wo jetzt gerade die Aufmerksamkeit ruht, und ob dies hilfreich oder heilsam ist. Achtsamkeit ist ja gerade die Fähigkeit, diese Erkenntnis zu gewinnen, und dann bewusst zu entscheiden, wohin ich meine Aufmerksamkeit richten möchte. Dies bedeutet auch, dass ich mich sehr wohl für die unangenehme Erfahrung entscheiden kann, um diese genauer zu erforschen. Ein Ansatzpunkt dafür kann die Frage sein, „was an dieser Erfahrung ist eigentlich das Unangenehme bzw. Schwierige?“
Häufig ist es äußerst einsichtsvoll, ergiebig und letztlich auch entlastend, sich aus dieser Sichtweise heraus mit schwierigen Erfahrungen zu beschäftigen. Die Forschung der letzten Jahre hat auch gezeigt, dass wir lernen können, unsere Aufmerksamkeit zu richten, und die Auswahl der Objekte der Aufmerksamkeit auch dauerhaft (etwas) zu verändern. Diese gute Nachricht bestärkt alle jene, die aus eigener, oft jahrelanger Meditationspraxis berichten, dass der Geist ruhiger – und auch freudvoller wird. Was zu einem weiteren wesentlichen Punkt führen soll – das bewusste Wahrnehmen von Freude. Die buddhistische Tradition kennt mit mudita (Skt.) einen systematischen Übungsansatz dazu. Mudita bedeutet übersetzt etwa „Mitfreude“ und gilt als erstrebenswerter Geisteszustand. Achtsamkeit ist ein wunderbares Hilfsmittel, um diese Übungspraxis zu kultivieren. Mitfreude ist nämlich eine kluge Sache. Emotionen sind ansteckend, das Emotionssystem des Menschen ist geradezu darauf ausgelegt, die Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen und in sich zu spiegeln. Lernen wir nun durch Achtsamkeit, Freude bei anderen Menschen (und Lebewesen) bewusst wahrzunehmen und erlauben uns, diese Freude mit zu fühlen, so profitieren wir, ganz pragmatisch gesagt, auch von der Freude aller Anderen. So mag es ein Stück weit leichter sein, auch in schwierigen Lebensumständen positive Erfahrungen im eigenen Dasein zu entdecken, ganz nach dem Leitsatz, dass das Leben dort stattfindet, wo die Aufmerksamkeit ist.
Dr. Florian Seidl